Maskenball

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Maskenball

Ausdrucksmittel und Vermummung, Strategie und Symbol, Hindernis und Ärgernis und neuerdings überall zu sehen: Zeit, einen Blick auf Masken zu werfen, aus mehr als einer Perspektive.

Arne Rautenberg demaskiert das Heilige, und in Gisbert Amms Sênryū über Corona wird etwas übertrieben. Bei Miriam Calleja versteckt sich ein lyrisches Ich, bei Martina Straková sucht es Schutz. Die Teilnehmer an Christine Brauns Aktion anlässlich der Debatte um die Datenschutzverordnung haben zugestimmt und sich anschließend nicht mehr wiedererkannt, Sridala Swami verlangt zur Identifikation ihres Gegenübers dessen Stimme, und Christine Kappes Protagonisten wissen nicht mehr, was echt ist. Hans Wagenmann geht zum Arbeiten in den Wald, Oliver Stahmann seit zehn Jahren mit seiner Kamera durch Lima. Dort spielt auch seine Geschichte "Die Holunderblütenmaske", in der er das komisch-schreckliche Bild einer Welt entwirft, in der ein hypertrophiertes Sicherheitsbedürfnis nicht nur die Tischsitten, sondern sogar die Liebe dominiert. Und irgendwo geistert noch Poes Katze umher (nebenbei: hatte Poe überhaupt eine Katze?                                                                                                               

                  ARNE RAUTENBERG
                    SACRE

CHRISTINE BRAUN


"Ich stimme zu"

Für ihre Ausstellung hat Christine Braun im Jahr 2018 mit jeweils ca. 25-30cm großen Alufolien die Gesichtsabdrücke der Besucher genommen. 
Zwei Fotos zeigen die Künstlerin bei dieser Arbeit.
Ihre Körpersprache, ihr Gesichtsausdruck: freundlich und zugewandt, ganz im Sinne der einvernehmlichen Aktion. Doch das gewählte Material hat seinen "Eigensinn", die Zustimmung der Teilnehmer ist ihren Masken nicht anzusehen.
Zum Hintergrund der Arbeit schreibt Christine Braun:










"Die Inspiration dazu kam im Zuge der Diskussion zur Datenschutzverordnung. Die Besucher meiner Ausstellung „mussten“ mir als Eintrittskarte / -gebühr ihre Gesichtsdaten in Form eines Gesichtsabdruckes überlassen. Die Besucher haben die Folie unter meiner Anleitung selber angeformt und somit die Abformung selber hergestellt. Aber zuerst habe ich ihr mündliches Einverständnis eingeholt - so wie im Internet mit:

Ich stimme zu
Das Gesicht, das bekanntlich auch in Ausweisen als Identifikationsnachweis gilt, wird hier zwar abgeformt, und man meint in der Betrachtung dieser Abdrücke sehr individuelle Züge zu erkennen. Aber es gelingt im Nachhinein keine individuelle Zuordnung mehr, selbst wenn ich die Besucher dazu auffordere, ihren Abdruck ganz genau zu betrachten und ihn sich zu merken."


SRIDALA SWAMI


Synaesthetic

Passport photographs are libellous.

I demand that you send
when you are asked for a likeness
a picture of your voice instead.

Go into a recording studio
and wait for a light to go green before
you speak your name clearly into a microphone.

They will print for you a waveform image
of your voice. In its lines, asymmetrical but steady,
I will detect the timbre of your voice

and know you by these lines that rise and fall -
abstract as thumb impressions or spectographs -
all shape and pattern, darkness and light.

One day, because we need to make
portraits of our voices
if we want our pictures to speak to us

you and I might find ourselves
in that studio, having our voice-impressions taken.
And because no one else need identify us

by these pictures, you will speak my name
and I yours. We will lay these photographs
(where our voices are intent and serious)

one beside the other and marvel
at how beautiful our names look
when spoken by another.




Five Falls, Kuttralam
For Veena Muthuraman

A face not so much
an image as an after-image
the dark patch where
the sun had been before
you looked away.
The centre turning
its inside face out.

No, a long hum

Never sure afterwards
    if you stood there
    if you survived
    if what emerged
out of the water was spectral
or what went into it.


aus: Escape artist, Aleph Book Company 2014, New Delhi




Synästhetisch

Passfotos sind Verleumder.

Statt eines Porträts
verlange ich ein Bild
deiner Stimme von dir.

Geh in ein Aufnahmestudio
und warte auf grünes Licht,
bevor du deinen Namen in ein Mikro sprichst.

Sie werden dir ein Diagramm ausdrucken.
Aus seinen Kurven, asymmetrisch, doch verlässlich, werde ich deine Klangfarbe ermitteln,

dich am Auf und Ab dieser Linien erkennen -
abstrakt wie Daumenabdrücke oder Röntgenbilder -
alles Umriss und Muster, Dunkel und Licht.

Eines Tages, wenn wir Porträts
unserer Stimmen brauchen,
wenn wir miteinander reden wollen,

finden wir uns womöglich nach Aufnahme
unserer Stimmabdrücke in diesem Studio wieder.
Und weil niemand sonst uns identifizieren muss

anhand dieser Bilder, sagst du meinen Namen
und ich deinen. Wir werden diese Fotos
(auf denen unsere Stimmen aufmerksam sind

und ernst) nebeneinander legen und staunen,
wie schön unsere Namen aussehen,
wenn ein anderer sie spricht.





Five Falls, Kuttralam
Für Veena Muthuraman

Ein Gesicht nicht so sehr
ein Bild als ein Nachbild
der dunkle Fleck wo
die Sonne war
bevor du wegsahst.
Die Mitte kehrt
ihre Innenseite heraus.

Nein, ein langes Summen

Nie sicher später
    ob du dort standest
    ob du überlebt hast
    ob was auftauchte
aus dem Wasser ein Geist war
oder was hineinlief.

deutsch von Sylvia Geist

MIRIAM CALLEJA


I hide

I hide behind a mask
    (eyes that around a million years ago witnessed the start of our love story
and did not
know how to continue it)

Solitude is loud
    (the neighbours are at each other’s throats, chasing each other and the kids; they seem
crazy but I still wish we had that kind of passion)

The fear is real and it’s coming to get you
    (have you washed your hands? Wash them again if you’re unsure. Don’t touch anything.
Remove your shoes, remove your love. Forget. Forget everything. Wash away what’s missing.)

The pandemic has arrived
    (one day we should go to the capital city while it’s deserted. We’ll visit as though there’s
nobody but us left. As though everybody’s gone away. Only you and I.)

The virus doesn’t kill you
    (they say that the first cut is the deepest. That first time you really fall in love. How should we measure love? Do you think it’s true that as long as you’re loving you keep forgiving,
keep digging, keep hurting?)

Statistics
    (if you answer this, I will be able to calculate the kind of distance you need)



Ich, versteckt

Ich, versteckt hinterm Mund-Nasen-Schutz
    (Augen, die vor geschätzten Jahrmillionen unsre Liebe entstehen sahen
und nichts
wussten von ihrem möglichen Fortgang)

Die Vereinzelung lärmt
    (Nachbarn springen einander an die Kehle, hetzen sich und die Kinder, nah am
Wahnsinn, und ich denk nur: Wärn wir einmal so leidenschaftlich gewesen)

Angst nimmt Gestalt an, packt dich
    (hast du die Hände gewaschen? Wasch sie zur Sicherheit nochmal. Nichts berühren!
Schuhe aus! Liebe aus! Vergiss. Vergiss alles. Wasch ab, was dir fehlt)

Die Pandemie ist hier
    (wir sollten mal in die Hauptstadt, dann, wenn sie menschenleer ist. Sie besichtigen,
als wär keiner da, nur wir. Als wärn alle woanders. Du und ich ganz allein.)

Der Virus tötet dich nicht
    (the first cut is the deepest, heißt es, wenn du zum ersten Mal liebst. Wie sollen wir
Liebe denn messen? Glaubst du, es stimmt, dass du immer weiter entschuldigst, suchst,
wehtust, solange du liebst?)

Statistisch gesehen
    (falls du mir antwortest, kann ich sicher hochrechnen, welche Distanz du jetzt brauchst)



deutsch von Karin Fellner

OLIVER STAHMANN: Urban Faces
"Der Blick

... eines Mädchens auf der Alameda Chabuca Granda im Zentrum von Lima, das eine sogenannte Mazamora Morada zubereitet, eine Art Gelee aus rotem Mais - keine Ahnung, ob sie mich neugierig, freundlich oder genervt anschaute. Aber da könnte auch ein Lächeln sein, oder?"

MARTINA STRAKOVÁ


nasadím si masku

aby som mohla lepšie dýchať
plynovú masku     filter    potrebujem        
                                                                        druhú
                                                           kožu
tá moja už medzičasom scitlivela          je svetloplavá         skrytá
                  som skrytá
                                              v skrytosti
                                                                     citlivá na slnko
                  a rozprávam sa s anjelmi
                                                                 Uriel         môj
archanjel                    môj ochranca                                prosím
                 dávaj na mňa pozor
         ochrannou rukou                      akoby na obraze od Leonarda
         vidím         jantárovo-žiarivý trojuholník
                  tesne pred mojou tvárou
         neón
pred mojimi očami o polnoci


zum atmen

setze ich eine maske auf
          eine gasmaske    einen filter   brauche ich
                                                                                        eine zweite
                                                 haut
meine ist inzwischen                            fadenscheinig  und verborgen
                                  bin ich insgeheim
                                                                     daheim
                                                                                       lichtempfindlich
          spreche ich mit Engeln
                                                                    mit Uriel                  meinem
Erzleuchter              meinem Sonnenschutz              halt
                        bitte die Hand
              drüber  meinetwegen       wie auf diesem Bild von Leonardo
              bernsteingelbes Dreieck
                       direkt vor meinem Gesicht
              schütze vor Neon
um Mitternacht meine Augen

                                                                           anhand einer Internlinearübersetzung von Martina Straková
                                                                                                                                          nachgedichtet von Sylvia Geist

SYLVIA GEIST


"... und das ist keine ode, das ist die katzenkammer
in einer geschichte lange nach poe."

















poes katze.
aus einem kalender

20. März

heute ist nicht poetisch. kann es gar nicht sein. heute ist poetisch erst morgen. heute ist heute eher poe. auch das -tisch nicht vergessen. worauf nichts von poe liegt. morgen vielleicht - poes katze: eingemauert im heute, ein vergehen oder versehen. ehe ich mich´s versehe, vergehe ich mich, bin schon vergangen. wie auch immer, hatte poe eine katze?

22. März

poes  katze, das bin ich. eingemauert in meine unglückliche liebe zum freien. wohin ich nicht gelangt, wenn es sich dünn macht, höchstens als grammatikalische figur.
diese sehnsucht nach den gegenwartsmomenten, zählbar wie ein schwarm fliegen, aber verflucht gut verfugt. fast untastbar, unfassbar verfugt mit geschwindigkeit, der von fliegen: abrupt und verlässlich. dahinter ich, die zurückgebliebene katze, die an den fugen kratzt, bis etwas hindurchscheint. licht, anfassbar warm auf meinem fell, einer in der ferne – vor ferne – zärtlichen sonne.

29. März

schluss mit dem sublimen! poesie heißt krallen raus und drauf, ein wehrhafter, notwendiger akt. aber licht? es kann ebenso gut wasser sein, was durch die fugen dringt, oder zugluft, oder lärm. und der moment ist ja gut und schön, aber nichts ohne davor und danach, nichts ohne geschichte.
die geschichte von heute könnte aus dem wetterbericht bestehen: nach  grellen saharatagen ist es kühl und bedeckt, aber je weiter man nach osten kommt, desto heller wird's. nichts mit regen.


9. April

die katze hat ihr feuer verloren. wie es scheint, hat sie alles vergessen. interesse, appetit, und sei es auf abwechslung, oder was zwischen mäusen und katzen zu sein hat, das spiel, die tat der jagd: vergessen wie ihren schöpfer hat sie diese dinge, oder wie der schöpfer von mäusen und katzen sie. tatenlos ist sie ein kühles nirvana, etwas, das anders ist, als es gedacht war. ein monster, oder nenn es alt.
die katze will jetzt milch. als monster ist sie jung.

15. April

heute wäre sie gern nerudas katze. die, in deren augen die nacht ihre münzen wirft.  stattdessen wirft die sonne ihre speere durch die mauerritze, und das ist keine ode, das ist die katzenkammer in einer geschichte lange nach poe.

24. April

wieder so ein morgen, an dem ich als die abgerockteste version eines gespensts aus dem geiste eines toten dichters erwache. dabei sitze ich in meinem hauptquartier an tausendundeinem schönen, blanken hebeln, während die geschichte von heute nur so abschnurrt: die wissenschaft kann wasser zu stein; die wirtschaft krankt an oligarchie; das virus hat einen namen. ich sehe mich schon einen hebel umlegen: die oligarchie blüht unter herpes dem soundsovielten; hermes heißt eine heuschreckenfressende orchidee; die wissenschaft kann wasser aus stein ...  die geschichte schnurrt weiter. die post bringt einen lichtblick.
auf sämtlichen pfoten schleiche ich hinein.

HANS WAGENMANN


Vom blattlosen unterarm, der im laub sich von den
namen seiner finger zu verabschieden schien, goss
sich wasser auf ihr haar

wessen haar. kein antworten blieb. kein beischlaf
anderer körper, die nahe lagen. ein weiterer legte
kleidung neben das gehölz, in dem ich schlief

die kleidung einer frau, die ich nicht war. und doch
zog ich sie mir über, um für den moment, da
das wasser versagte, gerüstet zu sein

wappen trugen wir seit tagen auf der stirn




Der helm gab schutz, dass die
wärme des schädels, die
augen sahen den rest des
fallenden körpers, im
mitstürzenden schnee
nicht verloren ging.

der schnee hatte die häuser
zu sich genommen.

in die geöffnete jacke
kniete sich ein anderer
ein, als sei er abschied.
abschied, der in selber
weise mit ankunft hätte
gerufen werden können,
mit dem beginn des sturzes,
der jetzt zum ende kam und
sich darin mehr und mehr
einem mund anglich, der leicht
geöffnet nach wasser rief
und hunger





Hohlkörper oder wange, dem sich ein atemzug
näherte, abtastend, als sei er noch das
stück brot, das klein geschnittene brot

das der vogel eben, ich hatte es ihm auf ein
hölzernes geländer gelegt, mit sich
genommen hätte

als verschwände damit ein name, der
name der stadt, in der ich mich jahre
zuvor begonnen hatte auszuschreiben

als läge darin der trost dem bisherigen
leib abschied zu sagen, vom gebet nicht
mehr entfernt auf einen boden zu sinken

OLIVER STAHMANN: Urban Faces
Als Tod im Taxi

"... das war Andrew, ein Engländer im Sensenmann-Kostüm, als er nach einer Halloween-Party im Stadtteil Miraflores nach Hause fuhr. Vorletztes Jahr hat man ihn in seiner Wohnung gefunden, erhängt. Er schien immer gelaunt zu sein, tatsächlich litt er unter so starken Depressionen, dass er es nicht mehr aushielt."

CHRISTINE KAPPE



„Gewisse Szenen
spielt er jetzt mit einer ganz anderen Haltung“

Was echt ist


Wir wissen hier alle nicht mehr, was echt ist. Die Bühne schwankt. Die Bühnenbildnerin zeigt mir einen fetten Ring. „Sieht billig aus.“ - „Das ist ein altes Familienerbstück! ...Ach, ich werd den nicht los.“ Siggie spielt immer mit Sonnenbrille, meint, das würde seine Maske ersetzen. Ein Glas ist rausgefallen, doch er spielt hartnäckig seit Wochen mit der kaputten Brille weiter. Gewisse Szenen spielt er jetzt mit einer ganz anderen Haltung: Eigentlich ist Faust viel teuflischer als Mephisto & Mephisto der einzige aus dem ganzen Stück, der keinen Psychiater braucht.
Diese Geschäftigkeits-Flüster-Haltung der Assistentinnen!
Aber sie bringt uns weiter.

Auf der Bühne ist es entweder zu heiß oder zu kalt.
Manu hat ne neue Hose, ich bin nicht mehr auf dem Laufenden.

„Na, wie gehts?!“, die Kostümbildnerin, superkünstlich, erdrückt ihn fast, samt Maske. Ihre Assistentin sieht aus wie ein Vampir, kann dasselbe aber von einem Schauspieler behaupten, in den sie heimlich verliebt ist. Dann ist ja alles gut.

Alle lachen wieder. Der Intendant hat dafür keine Zeit, aber auch nicht für so kleinliche Probleme wie Hospitanten-Freikarten.
Wir müssen einen Basar machen, um durch den Verkauf von Kostümen und Requisiten wieder an Geld zu kommen. Womit wir dann allerdings spielen wollen, bleibt ein Rätsel.
Der Bühnenbildner hat mal im Schauspielhaus gearbeitet, beim Sommernachtstraum. Weiß, dass da noch ganz viel Kunstrasen rumliegt. Den könnten wir haben.

                                                            ***

Bei meiner Freundin sein, auf der Dachterasse, ihre Tochter trägt die Maske mit Stolz. Symbol unterirdischer Verkehrsmittel, die durch die Tunnel rasen wie Gewehrkugeln. Wenn man den Reportagen glaubt, kommt man dort näher an den Tod heran und versteht nachher mehr vom Leben. Von diesem schwarzen Loch, das der Erde so nah ist. - Ich übertreibe, ich weiß. Ob mein Bruder übertreibt? Jedenfalls ruft er nicht an.

Bei meinem Vater sein. Zusehen, wie er zwischen den Einzelteilen seines Lebens sitzt. Die Schreibtischschubladen liegen unterm Tisch, sein Pokal ist auseinandergeschraubt und vielleicht essbar. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, mäandert durchs Zimmer. Das Bild von seinem Lieblingsvogel zerschellt in seinem Innern, doch er tut sich nicht weh. Das, was ihm wirklich wichtig ist, versteckt er unter der Bettdecke.


HANS WAGENMANN


"Wir arbeiten trotzdem"

lautete die Devise von Patchwork 2020. Trotzdem arbeiten, natürlich, nur wo, wenn Veranstaltungs- und Übungsräume geschlossen sind? Hans Wagenmann hat ein Werkstattbuch aus Videos erarbeitet: Arbeitstisch, Laboratorium, Buchenhain, Prozession und Hunger. Hier zwei Ausschnitte:
Prozession (2) Buchenhain (3)



GISBERT AMM


Vier Senryū über Corona


În diesêm Sênryū

ûber Corôna trâgen

dîe Wôrter Mâsken.



In diesem Senryū

über Corona schert es

die Wörter gar nicht.










In______diesem______Senryū

über______Corona______halten

die______Wörter______Abstand.



In |||||||||||||||| diesem |||||||||||||||| Senryū

über |||||||||||||||| Corona |||||||||||||||| wurde

es |||||||||||||||| übertrieben.




OLIVER STAHMANN
The Mask

"Die Guy-Fox-Maske wird eher mit Anonymous und Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht, aber
an diesem Tag - das war 2012 - gab es in Lima eine Art "Nackt-Demonstration für mehr Rechte für Radfahrer". Nackt war da niemand. In Deutschland wären wohl alle tatsächlich nackt mit dem Fahrrad los, aber in Peru hat sich das dann doch niemand getraut, und so waren die Männer mit freiem Oberkörper und die Frauen in leichten Tops oder Nachthemden oder im Badeanzug unterwegs."

OLIVER STAHMANN


Die Holunderblütenmaske


Sie hieß Reina und trug die schönste Maske im Ort. Weiße Holunderblüten auf rötlichem Grund. Ich hatte sie schon oft von weitem gesehen und mir in schlaflosen Nächten vorgestellt, wie wohl ihr Mund, ihr Kinn und ihre Nase aussehen mochten. Der Gedanke an all die möglichen Formen erregte mich sehr.
Doch erst bei der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes, der an einem unglücklich zusammengestellten Cocktail aus Chlorreiniger, Essig und Zitronensäure verstorben war, lernten wir uns richtig kennen.
Wir kamen schnell ins Gespräch über Infektionsraten auf Aruba und in Bahrain. Ihr Haar roch nach Zimt, Süßholz und Hydroxychloroquin. Schon bald berührten sich zärtlich unsere Ellbogen. Ich wusste sofort, dass ich unsere Antikörper vereinigen wollte.
Wir gingen noch ein paar Mal im Park spazieren. Einmal erlaubte sie mir einen Kuss auf ihre stoffbedeckte Wange, näher kam ich ihr nie wieder.
Ja, sie wolle eine Beziehung mit mir, offenbarte sie mir eines Tages, und dann werde sie auch die Holunderblütenmaske für mich lüften. Für diesen schwierigen nächsten Schritt jedoch brauche sie vollkommenes Vertrauen – und Urin-, Speichel-, Blut- und DNA-Proben. Ich schickte ihr alles per Einschreiben.  
Nun fehlte nur noch die Zustimmung ihrer Familie.

Kurze Zeit später lud sie mich zu sich nach Hause ein. Ihre Eltern, so erfuhr ich nach einer Google-Recherche, waren vor kurzem viral gegangen, nachdem sie mit Harken und Rechen bewaffnet eine Horde wilder Maskenverweigerer von ihrem Grundstück vertrieben hatten.
Ich trug an diesem Abend eine bunte Waq’ollo, die Maske der peruanischen Qhapaq Q'olla-Tänzer. Darunter war ich durch eine weitere N95 geschützt. Reinas Eltern waren beide in feine indigofarbene Tagelmusts gehüllt, wie sie bei den algerischen Tuareg üblich waren. Zu einer anderen Zeit hätte man uns für Teilnehmer einer Karnevalsveranstaltung oder einer Halloween-Party halten können – oder die Männer mit den Zwangsjacken benachrichtigt, schließlich war es Mitte Juni.
Gleich an der Tür desinfizierte ich mich gründlichst und zog mir meine langen, knallroten Gummihandschuhe bis zu den Ellbogen. Und was soll ich sagen, anfangs sah es so aus, als würde dieser erste Abend ein voller Erfolg.
Wir brachen das Eis erst einmal mit belanglosem epidemiologischen Smalltalk, bevor wir uns ins Speisezimmer begaben.
Das Abendessen wurde an einem großen achteckigen Tisch eingenommen, so dass wir vier ausreichend Platz hatten. Obwohl Reina mir gegenübersaß, war sie bestimmt über 7 Meter von mir entfernt, nur zu gern hätte ich sie 5.50m näher gehabt.
Die Vorspeise war eine trübe Brühe, die in kleinen, mundfreundlichen Kapseln serviert wurde. Dazu gab es einen Heidelbeerwein, ebenfalls in Kapseln, die man bequem unter der Maske hindurch zum Mund führen konnte. Reinas Eltern erzählten mir, die Kapseln seien aus Gelatine und lösten sich im Gaumen auf, ganz wie Tabletten, man müsse daher auch nicht kauen und reduziere so auch die Gefahr, dass die Maske beim Essen verrutsche. Außerdem brauche man kein Besteck mehr, hob Reinas Vater hervor. Es sei viel zu gefährlich, in diesen Zeiten Besteck zu benutzen, man müsste es theoretisch alle paar Minuten desinfizieren.
Früher seien sie überzeugte Veganer gewesen, berichteten die Eltern. Bis sie die Folgeschäden veganen Essens analysierten. Hitler, sagte der Vater, war Vegetarier. Was konnte man dann erst von einem veganen Koch erwarten? Aber Fleischverzehr sei auch keine Lösung und viel zu riskant. Er erzählte von Tierkonzentrationslagern und Fleischfabriken, die zu Superspreadern geworden waren und hermetisch abgeriegelt gehörten, wie einst Tschernobyl.
Essen, so sagte Reinas Mutter, sei heutzutage eine echte Herausforderung. Was habe das hochgelobte Mittelmeeressen den armen Menschen in Spanien oder in Italien geholfen? Und die Amerikaner mit ihren Burgern und Steaks stünden bald vor der kompletten Ausrottung. Weder Curry noch Feijoada, weder Ceviche noch Mole könne man guten Gewissens zu sich nehmen, und alles, was „Made in China“ war, käme ihnen sowieso nicht ins Haus.  Man habe sich deshalb entschlossen, nur noch neuseeländisches Essen zuzubereiten, daher handelte es sich bei der folgenden Hauptspeise auch um ein rotoruanisches Maori-Hāngi, das wie die Suppe in kleinen Kapseln gereicht wurde.
Nach der gewöhnungsbedürftigen Mahlzeit – ich verputzte drei Kapseln und kam mir dabei gefräßig vor, denn Reina und ihre Eltern nahmen selbst nur jeweils eine - setzten wir uns ins große, quadratische Wohnzimmer, in dem es vier kleine Sitzecken gab. Ich saß jetzt nur noch 5 Meter von Reina entfernt. Mein Herz schlug schneller. Ich war drauf und dran, die Eltern um die Erlaubnis bitten, ihre Tochter einmal ohne Maske sehen zu dürfen, doch dafür war es sicher noch zu früh. Ich durfte nichts übereilen, wenn ich ihr Vertrauen gewinnen wollte.
 
Diesem Ziel schien ich rascher als gehofft näherzukommen. Bei meinem nächsten Besuch zeigte Reinas Vater mir sein privates Labor, in dem er Ivermectin selbst herstellte. Er vertrieb das Medikament übers Darknet und annoncierte in unzähligen Online-Gruppen. Er verdiente gutes Geld dabei. Früher habe er Veranstaltungen organisiert, erklärte er und berichtete überaus detailfreudig von den Risiken, die er damals tagtäglich auf sich genommen hatte. Ich konnte mir wirklich kaum vorstellen, wie gefährlich diese Arbeit gewesen sein musste, und bewunderte seinen früheren Heldenmut.
In seiner neuen Arbeit sähe er inzwischen jedoch mehr Sinn. Es sei nicht ganz legal, aber er kenne die richtigen Leute, die drückten gern ein Auge für ihn zu. Trotzdem müsse man wissen, worauf man sich bei der Einnahme des Präparates einlasse. Eine falsche Dosierung, und man lande schnell in der nächsten Notaufnahme. Dennoch, er tue es für das Wohl der Gesellschaft. Er bot mir an, mir nach dem Essen eine kleine Dosis zu spritzen. Begeistert stimmte ich zu.
Nach dem Diner, zu dem wir uns wieder um die mir schon fast heimelig vorkommende Riesentafel setzten, führte mir Reinas Mutter voller Stolz ihren neuen Sauerstoffkonzentrator im Keller vor. Wenn die Beziehung mit ihrer Tochter ernster werde, sagte sie, könne man ihn sogar zu zweit benutzen.
„Reina mag Sie sehr. Das kommt selten vor“, erklärte sie mir und sah mir dabei in die Augen. Mehr war von meinem Gesicht ohnehin nicht zu sehen.
Dann steckte sie mir eine kleine grüne Pille zu.
„Man weiß ja nie“, flüsterte sie. „Das hier ist zur Vorbeugung gut geeignet.“
Es war eine Remdesivir - aber ich solle ihrem Mann nichts davon erzählen, er schwöre auf sein gepantschtes Ivermectin.
Reinas Eltern wussten, wie man einen jungen Mann wie mich beeindruckte, und unsere gegenseitige Sympathie vertiefte sich zusehends.

Dann änderte sich die Stimmung.
Ihr Vater erklärte mir, man wolle ernsthaft mit mir reden. Man fände mich sympathisch. Er hätte ein gutes „Feeling“ mit mir. Er holte einen Stapel Papier heraus. Es waren die Ergebnisse meiner zuvor verlangten Proben.
„Ihre DNA-Analyse ergab, dass ihre Vorfahren aus guten Gegenden kamen. Pommern, Dänemark, Norwegen, Griechenland, Malta. Äußerst gute und viren-robuste Gene, die da in Ihnen schlummern“. Ich müsse nur noch an meinem Gewicht arbeiten. Ich sah betroffen an mir hinunter. Die Pausbacken waren gut unter meiner Waq’ollo verborgen, aber der Bauch ließ sich nur schwer verstecken.
Dann ergriff Reinas Mutter das Wort. Man habe erleichtert zur Kenntnis genommen, dass meine Blutgruppe – wie auch die Reinas - 0 sei. A’s und B’s seien internationalen Studien zufolge zu anfällig. Frühere Bewerber ihrer Tochter seien allesamt A’s gewesen und kamen für eine Familiengründung nicht in Frage. Man sei also hocherfreut, für die weitere Planung auf mich zählen zu dürfen.
Verwirrt blickte ich von einem zum anderen. Hatte ich an der Intensität meiner Gefühle für Reina oder an der Seriosität meiner Absichten etwa irgendeinen Zweifel gelassen?
Reinas Vater räusperte sich, es fiel ihm offenbar nicht ganz leicht, mir auf die Sprünge zu helfen: Sobald es einen wirksamen Impfstoff gäbe, werde man mich mit offenen Armen in die Familie aufnehmen, beteuerte er. Doch wer wisse schon, wann das sein werde, es könnten noch Jahre vergehen – und bis dahin könnte Reina eine alte Frau mit qualitativ minderwertigen Eileitern sein. Physische Intimität mit abschließender Befruchtung, so schön das auch sei, komme unter den gegebenen Umständen aber auch nicht in Frage. So etwas zu gestatten, wäre verantwortungslos ihrer Tochter gegenüber. Man biete mir jedoch die Hand Reinas an und die Möglichkeit, biologischer Vater ihres Kindes zu werden, via künstlicher Befruchtung. Ich könne in der Pre-Impfstoffzeit Zugriff auf eine Webcam an der Wiege haben, das Kind auch hinter einer Plexiglasscheibe sehen und später über Gegensprechanlage oder Zoom regelmäßig mit ihm kommunizieren.
Ich fühlte mich geehrt. Das Konzept überzeugte mich, und vor allem wollte ich eines Tages mit Reina zusammen sein, ganz oben ohne – also ohne Maske.
„Nun“, sagte ihr Vater, „falls Sie einverstanden sind - und es sollte mich sehr wundern, wenn nicht - müssten Sie nur noch eine Spermaprobe hinterlassen. Hier und jetzt. Um den Rest kümmern wir uns.“
Man wisse um die delikate Situation, fügte Reinas Mutter hinzu, und wolle mich auch nicht einfach so in den Keller schicken. Darum habe man vorgesorgt und eine Reihe Fotos von Reina anfertigen lassen, nur für mich, damit es mir leichter falle.
Reina selbst hatte den ganzen Abend lang kein einziges Wort gesagt. All dies schien ihr unangenehm zu sein. Ich sah jedoch nur ihre Augen, und die verrieten nicht viel darüber, was sie wirklich von der Sache hielt.
Man reichte mir einen A4-Umschlag, einen kleinen Plastikbehälter und eine Küchenrolle.
So ging ich ins Badezimmer, setzte mich auf den Rand der Badewanne und öffnete den Umschlag mit den Fotos. Sie zeigten tatsächlich einen nackten, schönen Körper, und das in verschiedenen, durchaus sexy Posen, einige davon so lasziv, dass ich mich fragte, ob man ihr etwas aus dem Labor ihres Vaters verabreicht hatte.
Eine Sache aber störte mich: Auf sämtlichen Fotos trug Reina ihre Holunderblütenmaske. Nirgends war die Maske auch nur einen Zentimeter gelüftet oder verrutscht. Ich dachte an die Träume, die ich von ihrer Nase und ihrem Mund gehabt hatte, meine Phantasien von Küssen auf ihr nacktes Kinn.
Ich versuchte mir diese Träume in Erinnerung zu rufen, ich wollte diesen Behälter füllen! Es ging aber nicht, es wollte partout kein Leben aufkommen.
Nach einer halben Stunde verließ ich das Bad mit gesenktem Kopf und leerem Becher. Reina und ihre Eltern saßen immer noch jeder in seiner eigenen Ecke im Wohnzimmer und blickten mir erwartungsvoll entgegen.
Als ich erklärte, dass ich unter diesen Umständen einfach nicht konnte, wie ich wollte, fing Reina zu weinen an und rannte aus dem Zimmer, gefolgt von ihrer Mutter.
„Unsere Tochter ist Ihnen wohl nicht attraktiv genug!“ empörte sich der Vater. „So eine schöne junge Frau. Was ist nur los mit Ihnen?“
Ich will es kurz machen: Als die Mutter mit einer Harke in der Hand erschien, entschloss ich mich zur Flucht.
Ich sah Reina nie wieder. Und wenn die Zeit des Maskentragens einmal vorüber sein sollte, würde ich sie sicher nicht an ihrem Gesicht erkennen.
Die Fotos habe ich trotzdem behalten.
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