Gespräche

SHORE:
"Am besten wäre es, wenn es keine Hilfsorganisationen zu geben brauchte"


SHORE - Students Helping Organize for the Refugees of Europe - ist eine Hilfsorganisation am Bard College Berlin, die sich für geflüchtete Menschen einsetzt, über ihre Situation informiert, Hilfsangebote vernetzt sowie Sachspenden sammelt und verteilt. SHORE hat auch die Realisation der Ausstellung Through Our Eyes unterstützt. Gezeigt werden rund 200 Fotografien, Porträts ebenso wie Street Photographie, in denen zwischen 12 und 17 Jahre alte geflüchtete Kinder auf Samos ihren Alltag im Camp eingefangen haben. 
Im Gespräch mit poets katze stellt das Team klar: Was die Migranten brauchen, ist nicht unsere "Hilfe", sondern menschenwürdige Lebensbedingungen.

In Camps, aber auch in Erstunterkünften leben Geflüchtete bereits seit langem unter quarantäneähnlichen Bedingungen und müssen beträchtliche Einschränkungen ihrer Grundrechte hinnehmen. In welchem Ausmaß hat sich ihre Situation durch die Pandemie verschlimmert?
 
Die Pandemie hat die zuvor schon vorhandenen Gefahren und Ungleichheiten in den Camps massiv verschärft. Das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit war für die Migranten in diesen Camps schon immer gravierend beschnitten, ebenso der Zugang zur Gesundheitsfürsorge und Dingen des täglichen Bedarfs, und während der Pandemie hat sich das alles noch verschlimmert. Vor allem waren die Maßnahmen im Lockdown auf den Ägäischen Inseln so angelegt, dass es die Befürchtungen der Leute verstärkte, zusammengedrängt und mit kaum fließend Wasser oder anderen Gesundheitsvorkehrungen nicht mehr in der Lage zu sein, sich selbst und ihre Angehörigen zu schützen. Die Bewegungsfreiheit war monatelang unglaublich eingeschränkt, und es war schwierig, die einfachste medizinische Versorgung oder juristische Unterstützung zu bekommen.

Welche Maßnahmen sind inzwischen ergriffen worden, um die Gesundheit der Leute dort besser zu schützen?

Organisationen haben einiges unternommen, um die Camps mit mehr Seife, Wasserhähnen und Handreinigern auszustatten. In Moria zum Beispiel haben Migranten selbst ein Corona Awareness Team auf die Beine gestellt, um Informationen zu Händewaschen, Maskentragen und Abstandhalten zu übersetzen und zu verbreiten. Leider hat die Regierung die Sommermonate nicht genutzt, um die Camps auf die Pandemie vorzubereiten, bevor es dort zu Ausbrüchen kam, deshalb waren Quarantäne, Isolation oder social distancing nicht wirklich möglich, nicht einmal regelmäßiges Händewaschen. Hochgefährdete Personen wurden ausfindig gemacht und manche von ihnen von den Camps auf den Inseln in andere verlegt, aber diese Schritte geschahen zu langsam und waren unzureichend. Unglücklicherweise sind die Camps derart überfüllt, dass man die Mehrheit der Migranten verlegen müsste, um die Strukturen zu entzerren und die Lage zu entspannen. Im Verlauf der vergangenen Jahre, und auch während der Pandemie, sind die Aufnahmekapazitäten der Camps bis um das Zehnfache überschritten worden, und die Regierung ist erwiesenermaßen mehr daran interessiert, neue Ankünfte zu verhindern, als daran, die Räume für die Menschen, die schon da sind, zu erweitern, um ihren Aufenthalt menschlicher zu gestalten.
Zunächst fehlte es auch an Masken, aber Helfer brachten Aufrufe in Umlauf, Masken zu nähen, und Initiativen wie Sew for Solidarity (Nähen für Zusammenhalt) und unabhängige Gruppen sammelten Tausende Masken, die mitten im ersten Lockdown versandt und verteilt wurden. Ärzteorganisationen und die Regierung versuchten, die Versorgung sicherzustellen, und die Mehrheit der Migranten haben sie definitiv benutzt. Aber darin liegt auch eine bittere Ironie, denn schließlich bedeutet effektives Maskentragen, diese täglich zu wechseln oder zu waschen, und die meisten Migranten hatten nur ein oder zwei Masken, die jeden Tag getragen wurden.

Das Feuer in Moria war ein Aufschrei, ausgelöst nicht zuletzt durch den erhöhten Stress jener, die unter Quarantäne standen. Ist irgendetwas getan worden, um diesem Stress entgegenzuwirken?

Der Stress ist ein seit Jahren angewachsener, verschlimmert durch Gesetzesverschärfungen, die die Grundrechte der Menschen in solchen Camps weiter einschränken und ihre Menschenwürde leugnen. Um diesem Stress entgegenzuwirken, müssten die Camps vollständig evakuiert werden. Obwohl Gemeindezentren und Programme zur psychologischen Unterstützung ihr Bestes geben, sind die Lebensbedingungen so miserabel, dass sie eine schwere, dauernde Belastung erzeugen. Außerdem müsste die lange Wartezeit bis zur Entscheidung über die Asylanträge verkürzt werden, um den Stress zu mildern, der durch Langeweile, Furcht und den fortdauernden Kampf um die Befriedigung basaler Bedürfnisse wie Wasser, Nahrung und Obdach verursacht wird – nicht zu reden vom ungenügenden Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand. Der Stress in diesen Camps ist systematisch und vielfältig, alle Strategien zu seiner Bewältigung sind nur kurzzeitige Pflaster auf einer katastrophalen Situation der Bedrängung, bei der Europa es wissentlich belässt.

Welche Rolle spielen die Hilfsorganisationen?

Was die Menschen in diesen Camps brauchen, ist nicht unsere Hilfe. Sie können sich selbst helfen und auf sich selbst aufpassen, vorausgesetzt, sie werden angemessen behandelt. Am besten wäre es, wenn es keine NGOs oder Hilfsorganisationen zu geben brauchte und stattdessen für die Dauer der Asylverfahren für Obdach, Wasser, Nahrung, Medikamente und Rechtsbeistand gesorgt wäre.

Nachdem das Camp in Moria am 9. September niedergebrannt war, wurden hauptsächlich Familien mit Kindern und allein reisende Minderjährige in einzelnen deutschen Städten und Gemeinden aufgenommen. Abgesehen davon, dass vielen aufnahmewilligen Kommunen juristische Hindernisse in den Weg gelegt wurden: Wie beurteilen Sie diese Initiative, ist sie ausreichend?

Es war ein starkes Symbol, aber tatsächlich gab es nur wenige Transfers, und die gingen langsam vonstatten, ohne das System zu thematisieren, das Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer und auf den Ägäischen Inseln hervorbringt und beibehält. Diese Initiative war großartig, denn kein Kind sollte auch nur eine Nacht allein in einem Camp wie Moria schlafen müssen. Aber das selektive Vorgehen dabei zeigt auch eine Mentalität des Misstrauens und eine Form von Solidarität, die in hohem Maße an Bedingungen geknüpft ist.

Was können wir tun – hier in Deutschland und sofort – um die Lage von Geflüchteten zu verbessern, gerade in Zeiten der Pandemie?

Ich denke, wir können unseren Regierungen mit einer Flut von Briefen und E-Mails klarmachen, dass wir mit der gegenwärtigen Migrationspolitik nicht einverstanden sind und einen neuen Ansatz fordern, der Zuständen wie in Moria ein Ende setzt. Auch solidarische Initiativen wie die der Bürgermeister, die ihre Bereitschaft, Migranten aufzunehmen, deutlich gemacht haben, sind ein Beispiel auf lokaler Ebene, das die Bundesregierung nicht ignorieren kann. Informiertheit und Bewusstsein sind von wesentlicher Bedeutung im Kampf gegen falsche Vorstellungen, Stereotypen und Mythen rund um dieses Thema, die von Nachrichten und Regierungen weiterhin zementiert werden.

Das Gespräch wurde am 2. Dezember 2020 via E-Mail geführt.

MARTINA STRAKOVÁ:
"Ich brauche Kitsch"


Die amerikanische Gesellschaftskritikerin und Autorin Naomi Klein hat in einem Interview im Sommer 2020 das Potenzial der Krise als Chance hervorgehoben. An welcher Stelle und unter welchen Voraussetzungen könnte die Krise aus deiner Sicht als Chance begriffen und genutzt werden?

Eine Krise bedeutet eine Neudefinition des Bisherigen, des Alltäglichen und Verkrusteten. Sie bringt, zumindest teilweise, einen Bruch im scheinbar Offensichtlichen – auch in der scheinbaren Sicherheit – mit sich, stört und erodiert unsere tägliche Routine, auch die einer Gesellschaft, ohne Routinen kommt es gar nicht zur „Gesellschaftswerdung“. Eine Neudefinition gesellschaftlicher Routinen kann aber eine positive Entwicklung einleiten, eine Steigerung an Kreativität im Sinne eines fühlbar zunehmenden Einfallsreichtums. Ich spreche von einer Kreativität des Alltäglichen, auch hinsichtlich der Anpassung an neue Ereignisse wie z.B. den Verlust des Jobs oder den Bankrott eines Unternehmens, aber auch in größeren Zusammenhängen wie in Sachen Naturschutz. 
Doch, ich denke, in so entscheidenden Momenten steckt das Potenzial, neue Lösungen für alte Probleme zu finden oder gesellschaftliche Kräfte zu bündeln, um notwendige Veränderungen vorzunehmen, neue Strategien zu entwickeln. Zugleich ist die Krise eine wahrhaft stressige Situation, in der man auch noch über Fragen der Immunität nachdenken muss, auf persönlicher wie kollektiver Ebene. (Was bedeutet es eigentlich, immun zu sein?) 
Ich sehne mich nach einer Utopie des Möglichen, einer Utopie der Gelegenheit, nach einer Vision der Besserung. Mein persönliches Manifest ist jetzt: 
"Ich brauche Kitsch, um in dieser Welt glücklich zu sein."

Dazu fällt mir ein, was Milan Kundera einmal über Kitsch schrieb, ich glaube, in seinem Roman Der Scherz: „Kitsch ist die Verleugnung der Scheiße“. Da es die nun einmal gibt, wäre es nicht ein Irrweg, sie zu leugnen?

Was ich unter Kitsch verstehe - und das repräsentiert auch das Mauer-Juwel - ist eine Art Zuflucht, die ich jetzt sofort, im Krisenalltag, wie nie zuvor brauche. Ich betrachte Kitsch als etwas greifbar Schönes, Liebevolles, das mir nichts vormacht. Wie der Gartenzwerg auf meinem Balkon: Er ist da, wartet jeden Tag auf mich, unter allen Wetterbedingungen und Virus-Attacken. Es ist einfach ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass er dort auch morgen sein wird. 

In einem Gemälde des chilenischen Künstlers César Olhagary, das ebenfalls hier gezeigt wird, taucht auch ein Gartenzwerg auf, allerdings als Symbol einer falsche Idylle und des Eskapismus in eine heile Welt, die es nicht gibt. Wenn du sagst, Kitsch – inclusive Gartenzwerg - stehe im Gegenteil für Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit – da er " nichts vorspielt" - dann ist das erklärungsbedürftig.

Sicher, doch jeder von uns gibt einer Form, einem Objekt, eine innere Bedeutung und auch einen bestimmten Zweck. Auch ein Text wird gedeutet, Bücher - und ihre Autor*Innen - erfahren Zuschreibungen durch den Leser und im Akt des Lesens. Wenn jemand einen Gartenzwerg als Sinnbild einer falschen Idylle betrachten möchte, ist das sein gutes Recht. Mein Gartenzwerg auf dem Balkon bedeutet aber etwas anderes, weil er in der Umgebung, in die ich ihn gebracht habe, für mich eine bestimmte Funktion erfüllt. Wir können diese Frage auch auf den Kopf stellen und ein klassisches Werk, vielleicht von Rubens, nehmen und in einem Keller oder in einer Garage aufhängen. Einige würden das schon als Häresie betrachten, oder? 

Oder auch die Veränderung des Kontexts, die du mit deinem Mauer-Juwel durchspielst: Einmal setzt du die Handarbeit in einen Rahmen, wie man ihn eher um ein Rubensgemälde zu sehen gewöhnt ist, und in einem weiteren Arbeitsschritt – du hast dich eines Programms namens Fotofunia bedient – in ein fiktives Museum mitsamt Besuchern und Betrachtern. Das führt zu der Frage, welche Rolle der „Rahmen“, also die Präsentation und deren Implikationen, für die Rezeption eines Werks spielen. Die Tatsache, dass ich diese Frage, diese Brechung in deinen „Mauer-Juwel“-Arbeiten entdecke, macht es mir schwer, sie überhaupt als Kitsch wahrzunehmen, denn der kommt ja ohne solche Brechung aus.

Für mich ist Kitsch jedenfalls erst mal keine Verleugnung der Scheiße, sondern ein Bestandteil des Täglichen. Außerdem, Kitsch kann auch gut aussehen. 
Ich brauche ihn, um diese Krisenzeit zu überbrücken, als Entlastung von Kummer und Angst, aber auch im allgemeinen Sinne, als Ausgleich, als Gegengewicht in Form von Güte und Liebe, Schönheit –

- auch so ein strittiger Begriff. 

Da stimme ich dir zu. Sagen wir, ich meine etwas, das vorhanden ist, oder etwas „Zuhandenes“, also etwas, das mir sofort, hier und jetzt, „zur Hand ist“ und mich „rettet“. Ich brauche diese Art von Gegengewicht, damit ich im Alltag nicht den Verstand verliere. Ich sehne mich nach dem Gefühl von Ordnung und Harmonie. Mit anderen Worten: Ich brauche Kitsch, um in dieser Welt glücklich zu sein. Das ist mein Zauberspruch, mein Mantra, mein Aufruf zur Rückkehr zu Mitgefühl und Menschlichkeit: Das Ausgleichen. Der goldene Schnitt.

Jeff Koons arbeitete mit Materialien und Farbigkeiten, etwa bei seinen "Balloon Dogs" die dem Kitsch verwandt sind, allerdings ironisierte er stark. Magst du Koons?  

Ich muss gestehen - und unabhängig davon ob man Koonsʼ Kunst mag oder nicht - dass mir gerade in diesem Moment jetzt und hier, der Blick auf seine Ballon-Dogs&Cats&Rabbits in Pink und Blau ziemlich gut passt. Wir können diese Artefakte auch als einen großartigen Prototyp des Kitschs betrachten (falls es so etwas überhaupt gibt). In diesem Sinne nehme ich auch seine Balloon-Werke wahr, denen ihr Platz im Denken über die Kunst zusteht, gerade weil auch sie nichts vorspielen –

- sondern spiegeln, zumal wir uns buchstäblich in ihnen spiegeln können?

Ich könnte mir jedenfalls vorstellen, dass Koons damit weder um jeden Preis Erfolg haben noch schockieren wollte. Soviel ich weiß, sagte er selbst einmal, sein Ziel sei und bleibe es, „an der Kunst teilzunehmen“, nicht mehr und nicht weniger. 
Was die Ironie betrifft, denke ich heute mehr als je zuvor, dass sie in Kommunikation jeglicher Art im Wesentlichen verletzend ist. Und in gewisser Weise auch erniedrigend, weil sie den Wert des Diskurses, einer Beziehung oder einer Freundschaft an einer Stelle, an der es absolut unangemessen ist, verschiebt. Ironie trivialisiert, und zwar grobgängig, sie ist geeignet, den Ernst und das Gewicht jeglichen Problems zu mindern. Gebraucht werden aber Lösungen. Persönlich sehe ich keinen Mehrwert darin, die problematischen Seiten des Lebens und der Welt ironisch herauszustellen. Ehrlich gesagt mag ich ironische Leute nicht besonders. Ich denke auch nicht, dass die Ironie die Menschheit im Sinne echten Fortschritts weiterbringt. Ich halte es in einer Krise nicht für angebracht, die Realität zu ironisieren. Kitsch ironisiert meiner Meinung nach nicht. Kitsch möchte einfach sein, was er ist. 

Welche Merkmale zeichnen Kitsch denn für dich aus? Als Gegengewicht zum Bedrohlichen oder Hässlichen des Alltags könnten ja auch Werke der Renaissance oder des Abstrakten Expressionismus oder von mir aus des Impressionismus dienen? 

Die Definitionen des Kitschs variieren natürlich und sind Teil ernsthafter künstlerischer Diskurse. Aus meiner Sicht ist Kitsch etwas, das mit Emotion, oder auch mit Instinkt, zu tun hat. Dieses Etwas hat einen festen Platz in uns, macht einerseits die Einzigartigkeit des Einzelnen aus, stiftet aber gleichzeitig Gemeinschaft, ein Kollektiv. Und hier bewegen wir uns natürlich wieder auf dünnem Eis, denn es ist ein kurzer Weg vom Kitsch zur Manipulation - und darauf spielt Kundera meines Erachtens an. Aber man kann dem mit Hilfe der Kultur- und Sozialanthropologie oder der Psychologie auf die Spur kommen. Zum Beispiel hat Edgar Schein diese Zusammenhänge in seinem „Organisational Culture Model“ beleuchtet - doch das ist schon ein anderes Thema, das man auf der Ebene der Axiologie und der Moralphilosophie diskutieren müsste.

Ja, unbedingt! Das Kulturebenen-Modell stellt einen Zusammenhang zwischen den Kunstwerken – Schein nennt sie Artefakte – mit einem „Gefühl für das Richtige“ her, das auf kollektiven Werten basiere. Diese kollektiven Werte wiederum, so Schein, wurzeln in Grundannahmen, die wenigstens z.T. kulturell geprägt sind. Mein Eindruck ist, dass, wenn von Kitsch bzw. dem darin liegenden Trost die Rede ist, ein zumindest in Europa kulturell geprägtes „Gefühl“ hinsichtlich dessen, was Kunst ausmacht, ausgeblendet wird: Wahrhaftigkeit, Welthaltigkeit, Auseinandersetzung, Vision - Kunst eben nicht als Flucht, sondern als Ausdruck, auch als think tank für mögliche Auswege aus überkommenen Vorstellungen. Die Frage ist, welche kollektiven Werte liegen dem Kitsch deiner Meinung nach zugrunde, und von welchen Grundannahmen werden sie getragen? 

Wie gesagt, ich betrachte „Kitsch“ jetzt, in der gegenwärtigen Situation, und in dieser Sekunde als eine notwendige Entlastung. Meine Auffassung und mein Produkt, Mural Jewellery, variiert das eben auch deshalb, weil es sich um ein Irrationales handelt. Hier würde ich jetzt nicht irgendwelche „komplizierten“ Werte benennen. Aber ich möchte an dieser Stelle auf den Soziologen und Philosophen Georg Simmel hinweisen, dessen Betonung des individuellen Gesetzes in Moralphilosophie wie auch Ästhetik dem entgegenkommt, worum es mir geht: einen individuellen Weg des Subjekts von sich zu sich, der auch die Kultur trägt. Laut Simmel hat ein Mensch die Fähigkeit – die inkorporierte Potenz - aber auch die Verantwortung sich selbst gegenüber, sich auf diesen individuellen Weg zu begeben. Wenn er ein Produkt (des Lebens) aus der Position eines Dritten (also aus einer Position der Gegenüberstellung) betrachtet, ist er imstande, dieses Produkt in sich einzubeziehen und weiter zu transformieren, auch in moralischer Hinsicht. 

Warum beharrst du auf dem Begriff "Kitsch"? Als Provokation würde ich das sofort verstehen, etwa als Sturm auf diesen Elfenbeinturm, sozusagen – meinst du das?

Nennen wir es ruhig anders! Ich beharre nicht auf Kitsch, und ich möchte auch nicht provozieren, das macht Jeff Koons viel besser. Was nun die Renaissance usw. angeht: Ja, genau, für mich gehören meine Lieblingsstillleben und Landschaften unbedingt dazu! Das ist das Gleichgewicht, das ich gerade jetzt unbedingt brauche. Dazu zählt auch der Sonnenuntergang, und das in erhöhter Dosis! Ist das Kitsch? Natürlich, und was für einer!  

Zunächst einmal ist ein Sonnenuntergang ein Naturereignis, und als solches spielt er „in einem anderen Theater“.

Natürlich. Ein Sonnenuntergang ist aber auch ein Thema der Kunst und kann vielfältige Konnotation haben. Vielleicht könnten wir uns jetzt einen Sonnenuntergang vorstellen. Wie fühlt es sich an? 

Also Kitsch als „Medizin“, oder wenigstens als Placebo? Gehören Krise und Kitsch womöglich zusammen? 

Wenn Kitsch, dann nur als Medizin. Wie der Sonnenuntergang, der auch äußerst hilfreich für unsere Psychohygiene ist. Übrigens habe ich mir nun eine besondere E-Mail-Adresse eingerichtet: ineedkitsch@gmail.com, Zuschriften zum Thema sind willkommen.

                                                             Das Gespräch wurde via E-Mail im November 2020 geführt.

SRIDALA SWAMI:
"Anfangs habe ich gehofft, wir - als Welt - könnten die Chance wahrnehmen"


Gab es einen Lockdown in Hyderabad? Wie hast du ihn erlebt?

Ja, es gab einen landesweiten Lockdown, der nur vier Stunden vorher angekündigt wurde, am 22. März. Die strengste Phase dauerte etwa zwei Monate. Abgesehen von den Beschäftigten im Gesundheitswesen, Sanitätern und Polizisten durfte sich niemand frei bewegen. Lebensmittelläden und Apotheken waren nur wenige Stunden am Vormittag geöffnet. Wer nicht zum Arzt oder in anderen unaufschiebbaren Angelegenheiten unterwegs sein musste, brauchte einen Pass, um vor die Tür zu dürfen.
Am schlimmsten war die Krise aber im Hinblick auf die Arbeitskräfte, die aus kleinen Dörfern in die Städte kommen. Sie durften nicht mehr arbeiten, und viele wurden über Nacht entlassen, ohne irgendwelche Verlautbarungen darüber, wo sie wohnen oder wovon sie leben sollten. Millionen dieser Arbeitskräfte entschieden sich dafür, zurück in ihre Heimatdörfer zu gehen, weil sie weder Arbeit noch Nahrung, noch eine Unterkunft in den Städten mehr hatten. Und weil weder Busse noch Bahnen mehr fuhren, gingen sie zu Fuß. Es war eine massive humanitäre Krise.
Für mich verlief sie erträglich. Meine Mutter ist alt und besonders anfällig, deshalb geben wir immer noch Acht, mit wem wir Kontakt haben. Das College, das mein Sohn in einer anderen Stadt besucht, schloss, und er kam vor dem Lockdown nach Hause. Die Kurse gingen online weiter. Ich selbst habe immer von zuhause gearbeitet, es war also keine große Umstellung für mich.

Haben die Maßnahmen, die die Regierung ergriffen hat, dir ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, oder eher eines der Freiheitsberaubung? 

Die Regierung hat keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen soll, die Menschen sind mehr oder weniger sich selbst überlassen und müssen sehen, wie sie zurechtkommen. Wir informieren uns und verhalten uns ensprechend. Weil unser Gesundheitssystem schlecht und teuer ist, rät uns der Alltagsverstand, uns möglichst nicht in eine Lage zu bringen, in der wir darauf angewiesen sein könnten. Wir versuchen uns selbst zu schützen, zum Beispiel indem wir das Haus so selten wie möglich verlassen, denn manche Leute sind leichtsinnig, und wir haben eine gefährdete Person daheim.

Was hat sich durch Corona in Hyderabad verändert?

Während des völligen Lockdowns zwischen Ende März und Ende Mai war Hyderabad eine Stadt fast ohne Verkehr. Die Straßen waren geisterhaft leer, alle Geschäfte und Büros geschlossen, und wenn ich unbedingt raus musste, fühlte ich mich wie in einem Film über die Post-Apokalypse, wie in „23 Skidoo“ oder so.
Seit Juni öffnet sich alles allmählich wieder, und obwohl es mehr Erkrankungen gibt und wir weltweit die meisten Neuinfektionen pro Tag haben - annähernd 100.000 Fälle täglich sind es jetzt, Mitte September -, sieht alles aus, als gäbe es Covid gar nicht. Eine Menge Leute haben Masken, viele tragen sie aber nachlässig. In den meisten Geschäften kann man sich am Eingang die Hände reinigen, aber wenn es sich um kleine Läden handelt, gibt es kaum eine Möglichkeit, Abstand zu halten. Niemand versucht, die Zahl der Kunden zu begrenzen, denn dann kaufen die Leute anderswo, und das hält die Wirtschaft nicht aus, also haben wir da einen rechtsfreien Raum.

Gibt es Beeinträchtigungen des öffentlichen Lebens? 

Ja, und sie sind schwer genug, um die Wirtschaft ins Chaos zu stürzen. Mit 23,9 Prozent Negativwachstum sind wir die am stärksten betroffene Volkswirtschaft der Welt. Kleine und mittlere Unternehmen sind am stärksten betroffen. Die Leute geben für nichts mehr Geld aus, was sie nicht als unbedingt nötig erachten.
Das religiöse Leben, besonders das hinduistische, spielt sich fast unverändert ab. Dagegen sind die öffentlichen Proteste gegen die Gesetzesänderung zur Staatsbürgerschaft, die seit Dezember letzten Jahres begonnen hatten, zum Erliegen gekommen. Tatsächlich hat die Zentralregierung die Gelegenheit genutzt und Dissidenten oder solche, die sie dafür hält, ins Gefängnis zu stecken. Da öffentliche Versammlungen verboten sind, ist es schwierig, sich zusammenzuschließen oder den Protest fortzusetzen.

In Berlin, Stuttgart und anderen deutschen Städten gab es Proteste gegen Anti-Corona-Maßnahmen wie z.B. die Maskenpflicht. Gibt es solche Demonstrationen auch in Indien?

Ich denke, jeder sollte in der Öffentlichkeit eine Maske tragen oder wenn er mit jemandem zusammenkommt, der nicht zum eigenen Haushalt gehört. An den meisten öffentlichen Orten ist das hier Pflicht, und es gibt Geldstrafen für Fahren ohne Maske, die allerdings kaum einmal geltend gemacht werden. Die Leute protestieren nicht, sie machen, was sie wollen, und es gibt kaum Konsequenzen. Aber warum sollte man sich zu Protesten gegen das Maskentragen versammeln? Es gehört zur Alltagsklugheit, sich selbst und andere zu schützen, und es gibt sicher wichtigere Dinge, gegen die man protestieren kann, oder?

In Deutschland treffen die Maßnahmen Kultureinrichtungen wie Theater, Kinos oder kleine Galerien besonders hart. Viele fürchten um ihre Existenz oder mussten bereits aufgeben. Wie sieht es in Indien aus?

Ja, auch hier haben kulturelle Einrichtungen gelitten. Viele haben ihre Angebote ins Internet verlegt, so dass wenigstens etwas weitergehen kann. Das Goethe-Zentrum, wo wir damals am Übersetzer-Workshop teilgenommen haben, hat kurz geöffnet, um Examen durchzuführen, aber inzwischen arbeitet es ausschließlich online.
Die Frage ist nur, wer überhaupt Zugang dazu hat. In den meisten Familien gibt es nicht genug Laptops oder Smartphones, viele haben kein Inernet oder können sich nicht das Datenvolumen leisten, das nötig wäre, um online zu arbeiten oder Kurse und kulturelle Online-Angebote zu nutzen.
Ich weiß nicht, ob es aus diesem Grund geschieht, aber ich sehe, dass viele Organisationen mit Fundraising-Initiativen online gehen, und ich nehme an, dass Leute, die es können, weiterhin Insitutionen unterstützen, von denen sie denken, dass sie gute Arbeit machen.

Wie geht es den KünstlerInnen in deinem Bekanntenkreis?

Die meisten Leute, die ich kenne, durchleben schwierige Zeiten. Entweder haben sie Angst um ihren Lebensunterhalt und wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen, oder sie versuchen, Arbeit und Homeschooling irgendwie unter einen Hut zu kriegen, oder es gibt ältere Familienangehörige, die gepflegt werden müssen. Wie gesagt, die Einschränkungen werden eher als Vorschläge verstanden als dass sie wirklich erzwungen würden, so dass sie wirklich nicht das größte Problem sind, das die Pandemie aufwirft.

Was bedeutet Corona für deinen Alltag?

In meinen alltäglichen Abläufen hat sich wenig geändert. Ich habe mehr Hausarbeit, und anders als sonst ist mein Sohn für längere Zeit zuhause.
Aber in jeder anderen Hinsicht ist mein Leben mit mehr Ängsten gefüllt, über die Arbeit, das Geld, die Zukunft.

Beinflusst die veränderte Lebenswirklichkeit unter Corona-Bedingungen deine künstlerische Arbeit?

Ja. Im Juni habe ich ein Manuskript fertiggestellt, aber eine Menge dafür schrieb ich vorher. Seit Juni ist es mir überhaupt nicht mehr möglich zu schreiben. Ich habe Deadlines, die ich nicht einhalten kann, und sogar Lesen ist schwierig.

Die amerikanische Gesellschaftskritikerin und Autorin Naomi Klein hat kürzlich in einem Interview das Potenzial der Krise als Chance hervorgehoben. Teilst du diese Sichtweise?

Anfangs, als so viele Autos am Straßenrand standen und die Leute sich mit Kochen und Gartenarbeit beschäftigten, habe ich gehofft, wir könnten diese Chance wahrnehmen, als eine Welt, und unsere Lebensweise verändern. Jetzt denke ich, es ist der rechte Flügel, der die Chance ergreift und Regierungen erlaubt, autoritärer zu werden und noch herzloser gegen Menschen und Umwelt. Ich glaube, die Dinge werden sich noch sehr verschlimmern, bevor sie anfangen, besser zu werden.

                                                                        Das Gespräch wurde Ende September 2020 via E-Mail geführt.

MIRIAM CALLEJA:
"Festsitzen - so fühlte es sich an"


In den ersten beiden Monaten des teilweisen Lockdowns hatte ich das Glück, mit zwei Projekten beschäftigt zu sein, die zwei Aspekte meiner beruflichen Tätigkeit einschlossen. Das war einmal die Auftragsarbeit an einem Buch (über COVID 19, wie wir wenigstens ab diesem Zeitpunkt wussten). Es war eine sehr intensive Zeit, weil ich nicht nur sehr genau, sondern außerdem sehr schnell recherchieren und schreiben musste, damit das Buch rechtzeitig publiziert werden konnte.  Gleichzeitig organisierte ich einen Creative-Writing-Workshop für die Konfliktberatung VFB Salzwedel e.V., die sich dankenswerterweise mit den Themen Migration und Integration auseinandersetzen wollte. Doch dann mussten die Workshops plötzlich online abgehalten werden, und das brachte einige neue Herausforderungen mit sich. Trotzdem war ich zufrieden mit dem Resultat, besonders darüber, dass im Zuge des Workshops einige der Teilnehmer in ihrer Muttersprache und in deutscher Übersetzung publiziert wurden.

Als diese beiden Projekte abgeschlossen waren, sah ich mich aber etwas völlig anderem gegenüber. Zuvor hatte ich die Unruhe meiner Freunde nicht ganz verstanden, und obwohl ich immer etwas finde, das ich tun kann, ließ mich nun die Vorstellung nicht mehr los, dass wir nicht mehr frei ausgehen und andere Menschen treffen konnten. Für gewöhnlich bin ich gern zuhause, aber jetzt, da das die einzige Option war, gingen mir bestimmte existentielle Fragen nicht mehr aus dem Kopf. Ich war jeden Tag dankbar, mit einem Ehemann zu leben, der freundlich und fürsorglich ist, fragte mich aber oft, wie es anderen ergehen mochte, die allein lebten oder häuslicher Gewalt ausgesetzt waren, oder die vielleicht sogar mit Menschen festsaßen, bei denen sie auf keinen Fall bleiben wollten.

Festsitzen – so fühlte es sich an. Ich hatte ein spannendes Jahr geplant, und nun dämmerte mir, dass die Zeit für eine Weile stillstehen würde. So hatte ich eine Einladung zum Malta Mediterranean Literature Festival und ein Aufenthaltsstipendium in München bekommen, wo ich auch auf dem Schamrock Festival auftreten sollte. Eine Zeitlang dachten wir noch, das Festival könnte unter ein paar Auflagen trotz allem stattfinden, aber dann änderte sich die Situation in Malta, und wir durften nicht einmal mehr kleinere Gruppen bilden. Manche Veranstaltungen, wie ein Workshop für Kinder, wurden ins Internet verlegt. Wir arbeiteten noch ein bisschen an den gegenseitigen Übersetzungen, aber am Ende wurde das Festival in einem ungewöhnlichen Format präsentiert. Die Initiatoren haben einen fantastischen Job gemacht, um uns auf dem Laufenden zu halten. Es tat mir leid für sie und um all die Arbeit, die sie in das Festival gesteckt hatten, aber ich war froh, dass es im Rahmen der Restriktionen überhaupt irgendwie weitergehen konnte.
Das gilt auch für das Aufenthaltsstipendium, denn immerhin bin ich jetzt hier! Es stand alles ziemlich auf der Kippe, und ich dachte schon, ich könnte nicht nach München kommen. Dank der Stadt München, der Villa Waldberta und des Malta Arts Council habe ich aber nun Zeit und Raum zu schreiben und an neuen Projekten zu arbeiten. Und ich bin glücklich, dass ich im Vorfeld des Schamrock Festivals Karin Fellner kennenlernen konnte. Wir haben begonnen, mit der Poesie der jeweils anderen zu spielen, und arbeiten an Übersetzungen.

Die Möglichkeiten, die ich als medizinische Fachautorin hatte, schwanden, und die als Dichterin, Künstlerin erst einmal ebenso. Über Nacht wurde zwar der Kunst von einigen mehr Bedeutung beigemessen, aber für unsere Regierungen weltweit war sie die erste Leistung, die als „nicht essentiell“ erachtet und zuerst heruntergefahren wurde. Überall auf der Welt mussten Museen, Galerien und Theater schließen, einige endgültig. Das macht mich traurig im Hinblick auf die Zukunft der Kunst und ihrer Förderer und natürlich für die Künstler selbst. Ich frage mich, ob wir jemals wieder auf die Beine kommen.
Es ist schwierig, positiv zu denken, besonders nach Jahren harter Arbeit, um dorthin zu kommen, wo wir sind. Trotzdem gibt es auch den einen oder anderen Hoffnungsschimmer, im Online-Bereich oder im Überdenken der Strategien zu einer weiteren Verbreitung von Kunst. Das ist mir am wichtigsten: mehr Leuten einen Zugang zu ermöglichen, gerade auch denjenigen, die physisch nicht ins Theater oder zu Ausstellungen gehen oder an Workshops teilnehmen können. Festivals online abzuhalten, bedeutet ein mögliches kleines Einkommen über Spenden für die Künstler und für die Besucher den Zugang zu Veranstaltungen - weltweit. In dieser bizarren Zeit voller Einsamkeit und Gefährdungen für die mentale Gesundheit hilft auch das, sich weniger allein zu fühlen.

BIRGIT SVENSSON:
"Irakische Männer empfinden die Maske als Angriff auf ihre Männlichkeit"


Verzagter Kampf gegen die Krise -
Irak ist Corona-Spitzenreiter unter den arabischen Ländern.

Bagdad. Die Füße schmerzen, die Schuhe sind durchgelaufen. Am besten man zieht nur Slipper an, die man nach einigen Kilometern auswechseln kann, und schlurft über den Boden. Denn bei noch immer fast 40 Grad im Schatten wird der Gang schwer. In Mahmudija müssen die Autos stehen bleiben – 70 Kilometer südlich von Bagdad und 30 Kilometer vor Kerbela. Das letzte Stück muss zu Fuß zurückgelegt werden. „Keine Sorge“, beruhigt Akeel, der im Kulturministerium in Bagdad arbeitet und wie alle anderen in der vergangenen Woche freibekommen hat, um den letzten Tag des schiitischen Trauermonats dort zu feiern, wo er seinen Ursprung hat: in Kerbela. „Wir schaffen das“, sagt er und marschiert los, die Kollegen hinterher. 40 Tage lang trauern und weinen die Schiiten um ihren Imam Hussein, der in der Schlacht von Kerbela geköpft wurde, als es um die Nachfolge des Propheten Mohammed ging.
Nirgends wird so viel geweint wie auf dem Pilgerweg nach Kerbela. Man gewinnt den Eindruck, alles Leid der Welt spielt sich auf diesen 30 Kilometern Fußmarsch ab. Unter Tränen erzählen die Menschen die Geschichte ihres Religionsbegründers Hussein, der zum Märtyrer wurde. Nach der Schlacht von Kerbela im Jahre 680 gab es dann Sunniten und Schiiten. Durch eine Bluttat begründet, ist der Schiismus bis heute eine Religion des Leides und des Leidens. Schwarz verhüllte Frauen in den Heiligen Stätten wie Kerbela und Nadschaf im Irak vermitteln den Eindruck, permanent auf einer Beerdigung zu sein. Während der 40 Tage Trauer um Imam Hussein sollten keine hellen Farben getragen werden. Selbst ein Lachen wird mit negativen Bemerkungen begleitet.
Seit dem Einmarsch der Amerikaner und Briten im Irak 2003 genießen Millionen Schiiten die neue Freiheit der Ausübung ihrer Religion. Diktator Saddam Hussein, ein Sunnit, verbot ihre Rituale. Einige pilgerten trotzdem nach Kerbela, wenn auch im Stillen und ohne Aufsehen. Heute dagegen wird so viel Aufmerksamkeit um diese Pilgerreise gemacht wie nie zuvor. Überall gibt es Fahnen, schiitische Totengesänge plärren aus unzähligen Lautsprechern am Wegesrand. Es ist ein religiöser Marathon, der sich auf den irakischen Straßen dieser Tage abspielt – mit allem drum und dran. Der Pilgermarsch nach Kerbela gehört für Schiiten inzwischen zum gesellschaftlichen Muss. 

Grenze zum Iran geschlossen

Auch Corona hält dies nicht auf, obwohl in diesem Jahr wesentlich weniger ausländische Pilger die Straßen bevölkern. Die irakische Regierung verhängte ein Einreiseverbot für Ausländer und schloss die Grenzen zum Iran. Denn obwohl das Nachbarland offiziell ebenso viele Neuinfektionen (4019 am 5. Oktober) aufweist wie der Irak, traut man den offiziellen Angaben nicht. Die Todeszahlen im Iran von fast 30.000 sprechen eine andere Sprache. Die irakischeRegierung ist alarmiert. Zu lange hat Bagdad Flüge aus dem Iran zugelassen. Als andere Fluggesellschaften ihren Dienst bereits eingestellt hatten, sind immer noch Pilger aus Teheran, Isfahan oder Qom in Nadschaf gelandet und schleppten das Virus ein oder sorgten für eine schnelle Verbreitung.
So kommt es, dass der Irak mittlerweile zum Corona-Spitzenreiter unter den arabischen Ländern geworden ist. Kein anderes Land hat so viele Tote und Neuinfektionen. Mit 9604 Menschen (6. Oktober), die mit oder durchCovid-19 gestorben sind, liegt das Zweistromland zwar gleichauf mit Deutschland. Doch leben zwischen Euphrat und Tigris nur 38 Millionen Einwohner, im Gegensatz zu 81 Millionen in der Bundesrepublik. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass sich diese Zahlen nach dem Massenhappening in Kerbela noch weiter erhöhen werden.
Die meisten arabischen Länder (Iran ist kein arabisches Land) begegnen Covid-19 mit harten Maßnahmen. Nicht der Irak. Während am Anfang der Pandemie ein Lockdown verordnet wurde, hat die Regierung inzwischen aufgegeben. Sie ist zu kraftlos, um das Tragen von Masken durchzusetzen oder Social Distancing zu verordnen. Irakische Männer empfinden Masken als Angriff auf ihre Männlichkeit. Kleriker organisieren Großveranstaltungen; sie machen die Menschen glauben, dass das Umrunden des Schreins von Hussein in Kerbela die Immunität gegen Covid-19 stärkt oder Erkrankte dadurch geheilt würden.
Moktadaal-Sadr, einflussreicher schiitischer Geistlicher, rief zum Widerstand gegen die Schließung von Pilgerstätten auf und verurteilte eine Einschränkung der Teilnehmerzahl an Freitagsgebeten. Kürzlich wurde bekannt, dass Tote auf einem speziell für Corona-Opfer angelegten Friedhof aus den Gräbern wieder ausgebuddelt wurden, um sie mit traditionellen Riten anderswo zu bestatten. All das macht deutlich, wie viel Macht die Religiösen im Irak noch immer haben.
Moktada al-Sadrs Einfluss reicht weitin das Gesundheitswesen hinein, dessen katastrophaler Zustand mitverantwortlich für die Misere bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie ist. Der an Öl reiche Irak gibt derzeit nur halb soviel für seine Gesundheitsversorgung aus wie der arme Nachbar Jordanien, schreibt das irakische Webportal „Baghdadpost“. Dabei täte eine bessere medizinische Versorgung der Bevölkerung not. In einem Interview mit Ex-Gesundheitsminister Alaa al-Alwan beklagt dieser den verheerenden Einfluss der Anhänger des schiitischen Klerikers im Ministerium. Sie sperrten sich gegen jegliche Reformen. Korruption und Diffamierungen seien gängige Praxis, es werde gestohlen und verschwendet. Heute gäbe es weniger Krankenhausbetten und Ärzte im Irak als am Ende der Saddam-Ära vor 17 Jahren, obwohl seitdem die Bevölkerung sich nahezu verdoppelt hat.

Tausende Ärzte verlassen das Land 

Der Minister gab Ende 2019 auf und trat zurück. Etwa 20.000 Ärzte und medizinisches Personal hätten das Land in den vergangenen Jahren verlassen, informiert die medizinische Vereinigung, eine Gewerkschaft der Ärzte. Diejenigen, die geblieben sind, traten vergangene Woche in den Streik und forderten eine bessere Ausrüstung und akzeptable Arbeitsbedingungen. Der Forderung von Krankenhausdirektoren, doch bitte Medizinstudenten zur Verstärkung einzustellen, erteilte die Regierung eine Absage und begründete sie mit dem sinkenden Ölpreis und der dadurch ausgelösten Finanzkrise. Premier Mustafa al-Kadhimi forderte die Studenten auf, freiwillig und kostenlos zu helfen.

                                                  zuerst veröffentlicht in: Weser-Kurier, Bremen am 11. Oktober 2020
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